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Winterthur
27.4.1996

Theater

Karls neues kühnes Gassenschau-Programm

150 Jahre Bundesstatt

Züri lacht

Theater für Zürich

Lorenz Keiser: Aquaplaning

Andorra

Lysistrata

Clownschule Dimitris

Chin. National_zirkus

Theater der _Suchtprävention 96

Bremer Freiheit

Hanglage Meerblick

Schauspielhaus 1996

Eine _tierische Farm

Reizender Reigen

Blick zurück im Zorn

Massimo _Rocchi

Blickfelder

Bruno und Bruno

Die _Mausefalle

Ibsens _Wildente

Zwölf Leichen im Keller

Gedenkfeier für Eynar _Grabowsky

Girls in der Winkelwiese

Frauen kämpfen für ihre Freiheit 1831-1971-1996

Also der Autor weiss nicht so ganz, was er davon halten soll. Mit "Bremer Freiheit" führte das Theater des Kantons Zürich ein Stück von Rainer Werner Fassbinder, seines Zeichens einer der Koryphäen des "neuen deutschen Films" (=der siebziger Jahre) unter der Regie des katalanischschweizerischen Regisseurs Jordi Vilardaga auf. Und damit geht das 1971 entstandene Profitheater zurück zu seinen Anfängen, zur Zeit der 68er nämlich. Just im selben Jahr, als aus dem Gedanken eines richtigen "Theaters für das Volk" das TZ entstand, führte Fassbinder sein Stück über die Bremer Giftmörderin Geesche Gottfried auf. Damals war das Stück also noch brandaktuell. Doch schneidet "man" sich hier nicht ins eigene Fleisch?

Rekapitulieren wir. "Du spinnst ja, Frau!", meint einer der mächtigen Bremer Patrizier des Jahres 1831. Gemeint ist Geesche, das von ihrem Mann und ihrer patriarchalischen Umwelt gepeinigte Eheweib des Sattlers Gottfried. Auf die unerträgliche Gewalt reagiert sie mit Gegengewalt. Die Gerichtsbücher Bremens belegen, dass die 1831 hingerichtete Geesche Gottfried angeblich 15 Morde und zwanzig Mordversuche gestanden habe. Fassbinder nahm diese Geschichte auf und setzte es auf die Bühne um. Das ganze Stück erinnert an einen Roman von Agatha Christie, wo nach dem "Zehn kleine Jägermeister"-Prinzip eineR nach dem/der anderen mittels Arsen ins Jenseits befördert wird. Und auch die TZ-Fassung ist nichts als ein fast zweistündiges und pausenloses Morden. Der Autor zählte am Schluss immerhin neun Leichen.

Das Stück ist nicht besonders spannend. Geesche (Ariela Ruchti) wandelt sich von der liebenden und verschmähten Gattin zu einer regelrechten Mordmaschine, die nach und nach ihre WidersacherInnen um die Ecke bringt. Und wie es sich gehört, wird das Motiv immer sinnloser. Während sie sich am Anfang ihres unmenschlichen Gatten entledigt, was irgendwie noch ziemlich bald verständlich wird, ist sie am Schluss nur noch ein mordlüsternes Objekt, die aus reiner Lust an der Sache mordet. Das allerdings hat dann mit der hehren Sache der Frauenbewegung nichts mehr zu tun. Hier wird die andere Seite des "schwachen" Geschlechts gezeigt, die totale Skrupellosigkeit, zu der Frauen eben auch fähig sein können. Davon später. Die Bühne ist einfach und besteht eigentlich nur aus einem hellen Raum und dem Riesenstuhl des Herrschers, der notabene am Schluss eine Herrscherin ist, nämlich Geesche, die aus dem Schutz der häuslichen Privatheit zuschlägt.

Die schlichte Bühne täuscht nicht über den guten Auftritt des Ensembles hinweg, allen voran die Geesche-Darstelleirn Ruchti (selbst Bremerin) gefiel mit ihrer Art, das Wechselbad der Gefühle auszudrücken. Ihr nahm der Zuschauer/ die Zuschauerin die Wandlung der betenden Heldin zur betenden Teufelin ab. Sie bringt als einzige Spannung in die eher steinern wirkende Kulisse. Mit ihr hat der Regisseur Vilardaga, den wir an der Premiere als höchst nervösen und zappeligen netten Künstler kennengelernt haben, einen guten Griff getan. Und damit ist nicht das Arsen gemeint.

Die Ausbeutungsthematik der Frauenbewegung ist sicher eines der tragenden Motive des Autors Fassbinder gewesen. Ganz klar kommt auch der Aufstand des gepeinigten Wesens vor der mächtigen Gewalt heraus. Aber der Aufstand der Frau wird zu Terror - und die Geschichte gewinnt eine neue, meines Erachtens vom Autor nicht beabsichtigte Dimension. Es geht um die Umkehrung des "Guten" in der Emanzipation der Frau in sein Gegenteil.

Es ist nämlich nicht abzustreiten, dass eine Folge des weiblichen Selbstbewusstseins auch die ist, dass je länger je mehr der Sinn für Solidarität und Gemeinschaftsbewusstsein bei der heutigen Frauengeneration schwindet. Immer mehr Frauen sind bereit, auch ohne weiteres über Leichen zu gehen, wenn es ihnen zum Vorteil gereicht. Meistens handelt es sich dabei um männliche Leichen. Der Mann, früher mal der Täter, ist heute vermehrt zum Opfer geworden, der den Launen der "modernen" Frau gehorchen muss. Wenn er ihr nichts mehr nützt, lässt sie ihn fallen. Das hat nichts mit konservativem Backlash zu tun, sondern mit der Tatsache, dass viele Frauen nicht realisieren, dass Gleichstellung auch die Uebernahme kollektiver Verantwortung bedeuten muss, etwas, was sich die Männer schon lange schwer tun damit. Geesche wird zum Fanal für die junge, selbstbewusste Frau von heute, die vor lauter Freiheit den Sinn für die Menschlichkeit verlieren kann. Ich rede nicht von allen, aber doch von einer steigenden Zahl von Frauen.

Wir Männer müssen lernen, mit dieser "neuen" Frau zu leben, sie ist das Produkt unserer Zeit und unseres noch immer patriarchalischen Systems. Wir müssen uns bewusst sein, dass die Frau von heute durchaus zu einer "Schwarzen Witwe" und Giftmörderin werden kann und auch darf (wir sind auch nicht viel besser!). Aber es bedeutet auch, dass wir uns als Männer überlegen müssen, ob wir nun den "Knecht" mimen wollen, nachdem wir jahrelang der "Herr" waren. Oder ob wir nicht sagen: solange nicht wirkliche Gleichheit herrscht (also auch kollektive Verantwortung für die Gemeinschaft) sind wir nicht bereit, dieses Spiel zu spielen. Das ist die Kernaussage dieses Stückes. Ob gewollt oder nicht.

Uebrigens: die hier erzählte Hinrichtung Geesche Gottfrieds war die letzte öffentliche Hinrichtung in der Hansestadt Bremen. Und "Bremer Freiheit" wird noch bis zum 25. Mai drei Mal pro Woche im Sidi-Theater gespielt. Reservationen unter Tel. 052 212 14 42.



Für Biwidus: Wildcat (EMail) aus dem Sidi-Theater Winterthur