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4.2.96

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Ibsens Wildente

Eine 14 Jahre junge Erwachsene begeht Selbstmord, um sich in einer Welt des Wahnsinns die Liebe ihrer Familie zu garantieren. Dabei spielt auch eine Wildente eine entscheidende Rolle. Das ist die Ausgangslage des im Schauspielhaus angelaufenen Meisterwerkes "Die Wildente" von Henrik Ibsen. Wir haben uns das Stück angesehen.

Das Stück hatte am 1. Februar Prmiere. Die Länge ist mit fast zweieinhalb Stunden plus Pause sicher eher an der Obergrenze. Doch obschon die Handlung eigentlich sehr unspektakulär ist, gibt es nie Ueberlängen. Gregers Werle kommt nach vielen Jahren der Einsamkeit zurück in die Stadt. Er überwirft sich mit seinem Vater und mietet sich im Haus seines ehemaligen Schulfreundes, dem Photographen Hjalmar Ekdal ein. Entschlossen, seine ideale Forderung nach der in seiner Familie vermissten "wahren Ehe" auch in die Herzen seiner Mitmenschen zu tragen, holt Gregers die längst begrabene düstere Vergangenheit von Hjalmars Frau Gina ans Licht. Die in der Dachkammer der Wohnung beherbergte Wildente wird zum Symbol, das die aus der Balance geratene Familie Ekdal retten soll. Der Tochter Hedwig wird sie zum Verhängnis.

Dies ist kurz die Handlung des Stückes. Henrik Ibsen wurde einer der grossartigsten norwegischen Autoren des letzten Jahrhunderts. Er entstammt einer gefallenen bürgerlichen Familie und schrieb 1884 eines seiner erfolgreichsten Werke, eben die "Wildente". Ausserdem konnte er grosse Erfolge mit dem "Volksfeind" und "Peer Gynt" verbuchen. Ibsen ist wohl einer der berühmtesten gesellschaftskritischen Autoren des letzten Jahrhunderts. Seine Bilder einer verlogenen bürgerlichen Gesellschaft enden schliesslich immer im Verderben und im Tod. Ibsen ist aber auch ein Meister der Tragikomödie. Wie in der "Wildente" schwingt auch in "Peer Gynt" ein makaber-ironischer Unterton mit, der Gelächter erzeugen kann. Aber wer lacht, bekommt ein schlechtes Gewissen dabei.

Die "Wildente" im Schauspielhaus wurde von Daniel Karasek inszeniert. Es ist ein Stück um die Lebenslüge. Alle erwachsenen Personen tragen eine mehr oder minder offene Lebenslüge mit sich herum. Der alte Werle ist ein Egozentriker, der sein Dienstmädchen geschwängert hat und sich nichts daraus macht. Dieses, Gina Ekdal, lebt seit 16 Jahren mit ihrem Mann zusammen, der gar nicht der Vater ihrer Tochter ist. Der Mann, Hjalmar, ist ein fanatischer Phantast, der nichts von der Wahrheit hält und sich eisern am Traum einer erlogenen Erfindung festhält. Alle glauben ihm. Sein alter Freund Gregers zerstört aus einem pseudoidealistischen Gefühl heraus das Leben der Familie Ekdal. Grossvater Ekdal ist ein seniler Ex-Offizier, der noch immer in einer Welt der Jagd und des Ruhms lebt, obschon diese Welt der Dachboden ist. Ein bescheuerter Arzt und ein versoffener Pfarrer spielen auch noch eine Rolle in diesem Stück.

Nur die 14jährige Hedwig, hervorragend gespielt von Angela Klecker, bleibt während fünf Akten vernünftig. Sie zieht die Konsequenz davon, dass alle Erwachsenen des Stückes irrsinnig und verlogen sind. Sie erschiesst sich, um ihrem Vater ihre Liebe zu beweisen. Ibsen zeigt mit Hedwig die Vernunft, mit der eine erwachsende junge Frau die Welt um sich akzeptieren kann. Hedwig sei in einem schwierigen Alter, heisst es des öfteren. Aber ihre Unschuld, ihre Liebe, Offenheit und ihr Realitätssinn sind es, die sie von den Erwachsenen abheben. Nur sie verfällt bis zum Schluss nicht der Lebenslüge der Erwachsenen und indirekt auch der bürgerlichen Familie, in der diese leben. Sie ist, wie sie ist.

Die SchauspielerInnen interpretieren Ibsens Lebensgefühl sehr emotional. Während Hjalmar zuerst stark ist und dann zusehends zusammenbricht, ist Gregers am Schluss der gefallene Held. Das Bühnenbild (das Atelier des Photographen Ekdal) ist bedrängend, die Kostüme widerspiegeln die Verelendung einer nach aussen intakten Gesellschaft, und auch der Tonfall äussert abwechselnd Präsenz oder Ferne. Neben der grossartigen Leistung der anderen ProtagonistInnen ist das Auftreten Hedwig-Angela Kleckers zu nennen. Sie ist ausserordentlich hübsch, offensichtlich erwachsend, aber doch ein altkluges und natürliches Einzelkind. Sie zeigt all die Facetten auf, die zu jener Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein gehören. Der Zuschauer/die Zuschauerin schliesst sie sofort ins Herz, weil mensch sich selbst in diesem Kind erkennt, das verzweifelt versucht, in einer Welt des Wahnsinns zu bestehen.

Iso Camartin schreibt in einem Aufsatz über Kindervernunft:"Kindervernunft würde ausreichen, die Welt heil und geheimnisvoll zu erhalten." Ibsens Stück ist also aktueller denn je. "Die Wildente" ist sehenswert für jung und alt. Hedwig stellt die Zukunft einer untergehenden Gesellschaft dar. Sie ist wissend, realistisch und kann zwischen Phantasie und Wirklichkeit unterscheiden. Deshalb bringt sie sich um. Um der Lüge zu entrinnen, wählt sie den Weg der absoluten Realität, es ist nämlich nichts so real wie der Tod.



Für Biwidus: Wildcat (EMail) aus dem Schauspielhaus.
Photos: Leonhard Zubler