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St. Gallen
1.7.1996
Open Air St. Gallen Bericht vom

Sonntag, der 30. Juni

Es gibt kaum etwas schöneres, als im Morgengrauen in einer riesigen Zeltstadt mit 30'000 EinwohnerInnen aufzuwachen, die Lungen mit der kühlen Morgenluft zu füllen (um den Kater zu beheben) und die erste Tasse Kaffee in die Adern zu pumpen. Nur: Schreibender erwachte unfreiwillig. Ein paar Vollidioten liessen um sechs Uhr morgens voll Rohr Punk aus ihrem Ghettoblaster laufen - leider ist die Prügelstrafe vor Jahrzehnten abgeschafft worden. Was solls? Open Air halt. Aber mensch gewinnt neue Eindrücke während eines Spaziergangs durch die "Stadt". Plötzlich sind alle Menschen gleich, alle stehen an der selben Toilettenreihe an, alle torkeln noch schlafblöde (oder besoffen) herum, und alle sehnen sich nach einer warmen Tasse. Hängis und Möchtegerns gab es hier zwar en masse, aber alles war cool, alles easy-peasy. Eine bombastische Stimmung.

Gabriel Magos, der Wiediker Liedermacher, war der erste Act an diesem Morgen. Schade, denn der eulenspiegelhafte Sänger, Schauspieler und Tänzer hätte mehr verdient als den Haufen von paar Versprengten vor der Bühne, von denen wohl die meisten entweder noch vom Vorabend hängengeblieben sind oder nur einfach in Ruhe ihre Tasse austrinken (oder den ersten Joint des Tages rauchen....) wollten. Die Begeisterung hielt sich - nett gesagt - in Grenzen. Der Auftritt von Magos zu dieser unchristlichen Zeit war wohl mehr ein Heilmittel gegen den Kater, als eine ernstgemeinte Auseinandersetzung mit seiner Musik. Viel mehr Begeisterung weckte jedoch Dodo Hug gegen Mittag. Zum ersten Mal füllte sich der Vorplatz der Sitterbühne, als sie die ersten Stücke aus ihrer neuen CD spielte. Und hier waren die meisten wohl wegen ihr selbst gekommen.

"Ich könnte von den meisten die Mutter sein", meinte sie, als wir sie über das Publikum fragten. Sie wusste nicht einmal, dass 28'000 Leute auf dem Gelände seien, sie war von 12'000 ausgegangen ("Ich bin schon mal vor 6000 aufgetreten, aber hier hatte es ein bisschen mehr."). Dodo, die von den OstschweizerInnen viel, vom Internet jedoch gar nichts hält, sei überrascht und begeistert vom Publikumsaufmarsch vor der Sitterbühne. Sie würde zwar nie an ein solches Festival (sei ihr zu laut und zu gross) kommen, wenn sie nicht spielen müsste, aber die Stimmung sei einfach "lässig". Und sehr gut organisiert - vor allem, was das Essen betrifft. Das sei die Hauptsache.

Auf den Auftritt der Cardigans folgte dann eine delikate musikalische Darbietung der Jazzkantine, nichts neues, denn die Jungs sind in der letzten Zeit recht in der Gegend rumgetourt. Danach war die Bahn frei und der Bühnenvorraum voll genug für die letzten drei grossen Acts. Den Anfang machten die Leningrad Cowboys.

Nun kommen die Jungs, das ist ja das grosse Geheimnis, nicht aus Russland (sonst würden sie ja St. Petersburg-Cowboys heissen....), sondern aus dem Nachbarland Finnland! Und wie die Band heisst auch die bandeigene Biermarke (na ja...). Sie behaupten, die schlechteste Rockband der Welt zu sein und kehren das auf eine penetrante Art und Weise heraus. Das stimmt nicht, denn ihr Sound ist noch ganz geil, und das Publikum fuhr voll auf sie ab. Aber der Kitsch, den sie zur Schau stellen, ist dafür äusserst degoutant - eigentlich sind sie mehr als "Unterhalter" bekannt, denn als Musiker. Das ist schade. Ihre Anzüge sind lächerlich bis saublöd, ihre Frisuren ekelerregend und ihre Erscheinung ein Alptraum. Aber eben: ihre Musik ist cool. Und das haben sie in St. Gallen der jubelnden Masse bewiesen. Verstärkt durch zwei Cowgirls boten sie genau jenen kaputten Schrott (z.B. Punk-Versionen von "Katinka", "Smoke on the Water" und anderen bekannten Songs der Musikgeschichte) , den mensch von ihnen erwartet und der auch sehr gut in das Bild des anwesenden Publikums passt. So oder so: die Show war wie gewohnt 1A (schade haben sie hier nicht gegen die Toten Hosen Fussball gespielt...).

Anschliessend wurde es noch einmal heiss auf dem Platz vor der Sitterbühne. Die THC-Rapper von Cypress Hill waren angekündigt. Die Kalifornier hatten im Vorfeld lange auf ihre Teilnahmebestätigung warten lassen. Vielleicht deshalb mussten sie am Sonntagabend spielen, als die ersten Horden übermüdeter FestivalbesucherInnen ihre Zelte abbrachen und sich auf den Heimweg machten. Die noch immer vielen Verbliebenen machten es sich mit einem feinen Teil in der Hand bequem und genossen das Konzert (und nicht nur das). Bei Cypress Hill zeigte sich einmal mehr die heutige Känguruh-Mode. Die jüngere Generation von heute kennt nichts anderes, als uniform mit jedem Takt auf und ab zu springen. Komische Sache das, aber den Kaliforniern schien das gefallen zu haben.

Den musikalischen Schluss des Open-Airs bildeten die wiedervereinigten Sex Pistols und setzten auch gleich einen Gegenpol zum genial durchgeführten Open- Air; sie waren nämlich abgrundtief schlecht! Nicht nur, dass ihre Musik im 08/15 Stil abgespult worden ist, mensch sah den vier reiferen Männern nicht an, dass sie in den 70-ern die Band waren, welche das Musicbusiness bis heute revolutioniert hat. Es war viel mehr ein einstündiges Konzert, auf welchem man jede Sekunde zu spüren bekam, dass sie nur ins Sittertobel gekommen sind, um abzukassieren. So nicht, meine Herren!

Zum Abschluss gab das Organisationskomitee des Open-Airs St. Gallen bekannt, dass: 28'000 Personen (natürlich ausverkauft seit einem Monat) auf dem Gelände seien, davon 17'000 Supporter aus der Region (Mitglieder für SFr. 99.-, deshalb wurde das diesjährige Open-Air automatisch zu einem vorwiegend von OstschweizerInnen besuchten Anlass, und die zehntausenden aussersanktgallischen InteressentInnen durften sich die 11'000 "regulären" Tickets teilen). :-( 2'000 HelferInnen sorgten dafür, dass unter anderem 250 Tonnen Baumaterial (darunter sicherlich zu wenige Toiletten) aufgestellt wurden, 20'000 Zelte auf dem Gelände Platz fanden, mit 20'000 Humpen 40'000 Liter Bier (hmmm....) ausgeschenkt und 1,5 Millionen Teigwaren verkauft wurden, vom Entsorgungs- und Sicherheitsproblem ganz zu schweigen.

Nebenbei wurde noch inoffiziell verlautbart, dass der Koch des Medienzeltes einen Unfall gehabt habe (unter den BesucherInnen jedoch kaum welche - von den unzähligen Alkleichen abgesehen, meine ich) und dass sehr viele Schwarzeintritte zu verzeichnen waren, darunter Leute, die mit allen Mitteln der Kunst und Technik Eintrittstickets perfekt gefälscht haben. Sachen gibt's bekanntlich, die es nicht gibt. Die internen Querelen, die die Kommerzialisierung des Festivals (wird angeblich als Mehrwert, zum Beispiel mehr WCs, eingesetzt), mit sich brachte, wurden verschwiegen. Interessieren auch niemanden. Jedenfalls sei sicher, dass das nächste Open-Air im Sittertobel am 27.-29. Juni 1997 stattfinden würde, einmal mehr gleichzeitig mit dem Albanifest in Winti (Scheissorganisation!).

Das Biwidus-Team nahm das zur Kenntnis und wird auch nächstes Jahr wieder dabei sein, wenn es heisst: 21. St. Galler Open-Air im Sittertobel. So ein Open-Air ist etwas einmaliges in einem geordneten und von äusseren Einflüssen geleiteten Alltag, drei Tage lang kann hier der Mensch die Freiheit geniessen, sich selbst sein, tun und lassen, was mensch gerade einfällt. Das schadet zwar der Leber, der Lunge oder dem Gehirn, aber was soll's? Open-Air halt!


Open Air St. Gallen Bericht vom

Für Biwidus: Wildcat, Vitsky und Gaudimax aus dem sonntäglichen Sittertobel in St. Gallen