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Bern
18.11.1998

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Echt Solidarische Jugendsession

Ehrlich, ich kann es einschätzen, denn ich bin schon das siebte Mal dabei. Aber ich kann mich schon lange nicht mehr an eine Session erinnern, die so happy ablief. Nicht, dass sie besonders fehlerfrei wäre oder so. Aber der Groove innerhalb der Mitglieder und HelferInnen war so gut, dass es schon eine regelrechte Freude war, den Leuten beim sessionieren zuzusehen. Und das tat ich ganze drei Tage lang. Es ging diesmal um Solidarität und die Bereiche, in denen sie heute dringend fehlt. Und derer gibt es viele.

Jugendsession Moderator Begonnen hat die Chose am Donnerstag morgen, als der jurassische Schriftsteller José Ribeaud die Ankommenden mit den Worten begrüsste: "Die macht ist zu nehmen. Und ihr müsst diese Macht nehmen." Hierfür gebe es ja jetzt genug Zeit. Wie recht der Typ hat, einer der wenigen Alten, die die Sache wirklich sieht. Der Typ hat grundsätzlich auch etwas anderes sehr gut verstanden. Dass Solidarität Gleichheit bedeutet, dass es einem nämlich piepschnurzegal ist, was anderes als ein Mensch sein Gegenüber ist. Egal, welche Landessprache er oder sie spricht. Und dieses Anliegen teilt auch die überragende Mehrheit der Jugendsession(en).

200 der 720, die sich für die sieben Regionalsessionen angemeldet und daran auch teilgenommen haben, waren in Bern wieder mit dabei. Sie teilten sich in verschiedene Arbeitsgruppen zu den verschiedenen Unterthemen auf. Bei der Gruppe "Minderheiten" arbeiteten sich die beiden LeiterInnen Maurus und Nicole langsam an die Sache heran, eine Geschichte wurde vorgelesen. Eine Geschichte über ein Kind, das andere ausschliesst und am Schluss durch seine Dummheit selbst ausgeschlossen wird. Und die Gruppe konnte sich von diesem Einstieg aus gestärkt in die Diskussion werfen.

Ribeaud Eine andere Gruppe unterhielt sich über die Asylpolitik, auch hier hatten die LeiterInnen es nicht leicht, mit einem komplizierten Thema und dem entsprechend kleinen Wissenshorizont der Gruppe umzugehen. Der eingeladene Beamte des Bundesamtes für Flüchltinge musste in einem engen Raum gegen eine Wand des Kleingeistes sprechen. Eine weitere Gruppe unter der Leitung des aargauisch-bernischen Leiterduos Ryan und Jan nahm sich des Themas Mann/Frau an und diskutierte sehr angeregt über die Probleme der Teilzeitarbeit. Sehr bald kamen die Kids dahinter, dass es sehr viel Mut und Mühe braucht, kurz, konkret und effizient zu arbeiten.

Donnerstag abend gabs es die erste kurze Pause, die Gruppen leisteten sich ein kurzes Abendessen, dann (nach vielen und langen OK- und anderen Sitzungen) schwärmten die älteren Teilnehmenden und HelferInnen zum Ausgang aus. Unter anderem machten die Mitglieder der diesjährigen Jugendsession die Bar Splendid unsicher. Vorher war man auch für einen Abstecher in der linken Hochburg Reithalle. Der müde Gesprächsleiter Maurus stolperte dabei über einen Frauentisch, von dem er ziemlich unwirsch weggescheucht wurde. Nach einem kurzen Aufenthalt mit Kilkenny-Bier und einem Gastauftritt in der Reithalle wagten wir uns auch in eine Latinodisco, aber leider war bei zehn Männern und einer Frau (und dann leider auch noch eine überzeugte Single) nicht gut tanzen angesagt.

Jugendsession Gruppensitzung Am nächsten Tag waren wir auf Besuch bei der Gruppe "Nordsüd", wo die beiden Luzernerinnen Kathrin und Kristin sich mit einer wirklich phantastischen Gruppe durch das Programm arbeiteten. Das habe selbst ich bemerkt. Kathrin meinte dann auch, dass das Gefühl, der Groove innerhalb der Gruppe schlicht traumhaft war, super, wie sie sich ausdrückte. Harmonie ist das richtige Wort, es wurde zwar heftig diskutiert, die beiden Mittelschülerinnen hatten aber nie Mühe, die Diskussion in eine richtige Richtung zu führen. Die Gruppe hatte auch einen interessanten Ansatz gewählt, es ging um ein Label für besonders sozial- und ökologieverträgliche Produktion. Die Gruppe demonstrierte überzeugend eine hervorragende Teamarbeit.

Sonia In dieser Gruppe stellte die achtzehnjährige St. Gallerin Sonia auch die Solidaritätsstiftung vor, so wie es ihr Job während dieser Session ist. Sie hat sich dafür gemeldet, das Thema intensiv zu diskutieren und dann den Gruppen vorzutragen. Sie bewies dabei eine Fachsicherheit, dass es mir kalt den Rücken runterlief. Das Fachwissen, mit dem die Jugendsession dieses Jahr um sich geworfen hat, ist absolut fantastisch. Die Mitglieder wussten weitgehend, von was sie sprachen, sie wagten sich sogar oft an juristische Spitzfindigkeiten. Sonias Gruppe fordert auch Einsitz der Jugendlichen in den Stiftungsgremien. Die süsse Kleine überzeugte die Gruppe mit ihrem Wissen und ihren überwältigenden Charme.

Unterdessen wurde das Bundeshaus für die Jugendsession fertig gemacht, die Gestaltungsgruppe hängte ihre beiden gemalten Werke auf, die einen Ueberfluss-Abfalleimer und ein Piktogramm für Armut darstellen. Gleichzeitig trafen sich verschiedene Mitglieder des Parlaments zu einem Stelldichein mit dem OK-Team. Von Vreni Hubmann, über Christiane Langenberger bis zu Pierre Aeby war eine interessante Mischung von Politprofis vertreten. Leider kamen fast alle aus dem linksgrünen Bereich, was OK-Mitglied Niklaus auf die weiterhin schwierige Rolle der unabhängigen Jugendsession in der bürgerlichen Politik zurückführt. Jedenfalls war das schon immer so, dass sich die Rechten diese Mühe nicht gerne machen.

Die Gruppe Nordsüd hatte Besuch von zwei linksgrünen Nationalrätinnen, der Luzernerin Cécile Bühlmann (GP) und der Bernerin Ruth Gaby Vermot (SP), die sich offensichtlich damit unterhielten, den Jungen zwei Stunden lang die Ohren über ihre Ansichten und Erlebnisse vollzulabern. Leider entwickelte sich kaum ein richtiges Gespräch, denn meistens schwatzten sie, obschon sich Cécile Bühlmann anschliessend sehr befriedigt zeigte, die Mitglieder dieser Gruppe seien echt gut und eine Investition für die Zukunft (nicht wörtlich, sondern sinngemäss wiedergegeben). Sie mussten sich auch private Fragen gefallen lassen, blockten aber mit der Professionalität von Berufsparlamentarierinnen ab. Auch sonst war die Diskussion leider sehr einseitig, die Jungen haben sich aber sichltich dennoch unterhalten.

Dreifuss liest Freitag abend, Fest. Fast ohne Pause ging es im Gaskessel weiter, die SessiönlerInnen zogen sich zu einem Fest zurück. Es traten verschiedene Bands auf, darunter die Gruppe Error Func des OK-Mitgliedes Andy Limacher. Ziemlich bald füllte sich der Partytraum mit tanzenden und trinkenden Mitgliedern der Jugendsession. Während sich ein Grossteil der "Erwachsenen" cool an den Tresen hing und sich bei einem Bier oder Wein über Gott und die Welt unterhielt, tanzten sich die jüngeren dumm und dämlich. Beobachtet von den wachsamen Augen des Jung SVP-Präsidenten Thomas Fuchs, der vor zwei Jahren die Jugendsession noch ein Kasperlitheater genannt hatte. Jetzt hat er sich uns gegenüber eher positiv geäussert. Vielleicht liegt das auch daran, dass wir auch schon sehr bekifft und besoffen und vor allem müde des Festens waren. Das Fest war aber eine Riesenfreude, wir hatten viel, viel Spass, bis wir um fünf Uhr morgens endlich in die Koje kamen.

Dreifuss und Anna Jugendsession, das heisst für die meist etwas älteren Mitglieder des OKs spät ins Bett gehen (wegen Fest) und früh aufstehen (wegen Arbeit), deshalb hatten die meisten auch ziemlich Mühe, sich für den grossen aller Augenblicke wach zu machen, die Plenumssitzung, die eines verregneten Samstag morgens im Bundeshaus begann. 200 Jugendliche zogen von der Jugi ins Palais, ausgerüstet mit Abstimmungs-T-Shirts, den Petitionen und oft mit einer nicht kleinen Dosis Koffein, denn jetzt war Durchstehvermögen gefragt. Auch wir warfen uns in die gängige Sessions-Uniform und traten in die grosse Halle des Nationalratssaales ein.

Der Anblick war einfach wunderschön. Und dabei meine ich explizit nicht die vielen wirklich zum Wahnsinnigwerden hübschen Teilnehmerinnen und vor allem Helferinnen, sondern wirklich nur den Anblick des Plenums. 200 Jugendliche hielten die Hallen der Macht im Staate besetzt, sie brachten Farbe in die Stierheit des Raumes, forderndes weiss statt dezentes grau oder schwarz. Schon wurden die ersten Petitionen behandelt, unter dem wachsamen Auge des Medienpulkes unter der Leitung des DRS-Obergurus Siegenthaler. Selbst Tele M1 war dort ;-)

Dreifuss und Hanf Eröffnet wurde die Session von Bundesrätin Ruth Dreifuss, die den Jungen Mut machte, die Schweiz brauche die Jugendsession und die anderen ähnlichen Veranstaltungen, die aus dem Bundeshaus ein Haus des Volkes machen. Denn die Welt werde immer unsolidarischer und gerade die Jugendsession könne ein Zeichen setzen. Deshalb müsse sich die Jugendsession in den Arsch klemmen und eine breite und tiefe Diskussion über dieses Thema führen. Die Jungen goutierten diese Worten mit einem Hanfpflänzchen, die die Bundesrätin etwas ungehalten entgegen nahm. Leider nutzte sie auch die Gelegenheit, sich gegen die Droleg-Vorlage von Ende November auszusprechen. Das Teil wolle sie auf ihr Pult in ihrem Büro legen. Jaja. Sie hat schon an mehreren Sessionen teilgenommen und sollte eigentlich wissen, dass das niemandem Eindruck macht. Immerhin attestiert sie der Jugendsession eine grosse Entwicklung in Form, Inhalt und Qualität.

Die Jugendlichen debattierten sehr angeregt, Wortmeldungen en masse gab es, darunter ganz spannende. In der konservativ angerissenen Asyldebatte stand eine Welsche auf und hielt der Ratsrechten entgegen, sie habe Angst, wenn diese so argumentieren. Ein Winterthurer sagte ja zur Integration von Behinderten in die Schulen, stellte aber auch entgegen, dass die LehrerInnen speziell dafür geschult werden müssen. Eine Bündnerin sprach sich für eine Förderung der Mehrsprachigkeit aus. Und einer der etwa zehn Jungpolitiker der (rechten) "Stahlhelmfraktion" forderte die Ablehung der Solidaritätsstiftung, um das Geld für die AHV zu reservieren, eine Forderung, die sofort eine Kritik seitens des OKs hervorrief, dass keine Parteibücher runtergeleiert werden sollen. Die Zürcher SVP lässt grüssen.

Jugendsession Plenum Die Session sprach sich schliesslich für eine Förderung der Teilzeitarbeit und der Bildungssysteme der Entwicklungsländer, die Integration von Behinderten in den "normalen" Alltag und die zweite Landessprache in der Grundschule, resp. der dritten später aus. Zwei Asylvorlagen wurden mit dem verfehlten absoluten Mehr abgelehnt, was ziemlich Verwirrung stiftete. Die Jugendsession unterstützt im weiteren die Solidaritätsstiftung mit 128 zu 22 Stimmen und Massnahmen gegen die grassierende Jugendarbeitslosigkeit. Leider waren die einen oder anderen Vorlagen derart seltsam formuliert oder abwegig, dass auch die besten Diskussionen und Ideen nur ein Tropfen auf den heissen Stein waren und nicht allzu viel Klarheit in die Sache brachten.

Zum zweiten Mal dieses Jahr nahm Ständeratspräsident Ulrich Zimmerli von der Berner SVP die Petitionen der Jugendsession entgegen. 7 von 12 eingereichten Vorlagen wurden verabschiedet und eingereicht. Der SVP-Politiker versprach wiederholt, alles zu tun, damit die Forderungen der Jugendsession auch ernst genommen werden. Die Vorläufer seien jetzt in den Kommissionen und würden sicherlich besprochen. Das ändert nichts daran, dass nur wenige der Forderungen der Jugendsession bisher eine Chance hatten auf dem Parkett der erwachsenen Politik. Zimmerli nahm die Petitionen entgegen und erhielt auch gleich das obligate Sessions T-Shirt. Sprachs und ging wieder. Eine Stunde habe er zugehört, habe er. Na, wers glaubt. Seine Worte waren vielleicht ernst und ehrlich gemeint, aber er hat nicht gerade Vertrauen geschaffen.

Plenum klatscht Die meisten Jugendlichen können mit dem Gerede halt nichts anfangen und glauben nicht wirklich daran, dass die Erwachsenen ihre jungen Forderungen auch wirklich akzeptieren werden. Die schweizerische Politik ist sehr langsam und niemand weiss, wie die Jugendlichen integriert werden sollen. Aber kaum kommt wie mit der Jugendsession eine gute Idee, die Jugend in den Politbetrieb einbauen zu können, wird abgeblockt, man müsse Geduld haben und Verständnis. Während die Jugendsession 1998 langsam ihr Ende fand, fragten sich alle: was bleibt? Das T-Shirt? Nein, eher der Groove, das Gefühl der Freude am jungen Politisieren, an der gemeinsamen Erfahrung eines schönen Erlebnisses, an der Aussprache und dem Teilen der jeweiligen individuellen Probleme.

Ulrich Zimmerli Die Jugendsession hat keine Macht, aber die erwachsenen Politiker haben begonnen, den Worten der Jugend zuzuhören, ihnen auch zu vertrauen. Das ist schon ein grosser Erfolg, denn es bedeutet, dass die Jugendlichen endlich ernst genommen werden, dass sie ihre Forderungen auch wirklich an die richtigen Stellen einbringen können. Ausserdem erleben sie einen Anlass, den sie so schnell nicht vergessen. Nicht zufällig wird das Interesse für die Jugendsession immer stärker, immer intensiver wird die Idee, die Philosophie der Jugendsession verbreitet, was die moralische Macht der Jugendlichen stärkt. Und je mehr sie Macht haben, je mehr dass sie Einfluss nehmen und auch Geld sprechen können, desto mehr fühlen sie sich als akzeptierter und wichtiger Teil der Gesellschaft und handeln danach. So geschehen heute, wo in Aarau die erste städtische Jugendsession stattfand.

Ich würde euch für mehr Infos auch die offizielle Homepage der Jugendsession 1998 empfehlen.



Für Biwidus: Wildcat (EMail) (hat sich ungemein amüsiert)