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19.5.1996

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Hammer Joe ist der Archetyp eines stereotypen Tätowierten: ein abgefuckt wirkender, langhaariger, nicht besonders attraktiver, eine Hells-Angels-Kluft tragender und immer etwas belämmert wirkender Show-Mann. Seine Tatoo-Bude liegt an der Brauerstrasse 4, mitten im "verrufenen" Kreis 4. Er hatte die Tatoo-Gemeinde Europas ins Zürcher Schützenhaus Albisgüetli zu einem Treffen, einer Convention gerufen. Und sehr viele kamen, trotz des miesen Wetters. Mensch war "unter sich" im Schützenhaus, das war sofort klar. Tatooes, Tätowierungen, also kunstvoll unter die Lederhaut gespritzte Farbe, sind schon seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden, begehrte Schmuckstücke, vor allem von indigenen Völkern. Bei den Maori haben sie verschiedene rituelle Bedeutungen, bei anderen Indianervölkern bedeutet ein Tatoo so etwas wie eine Initiation. Und bei uns im Westen ein freches und cooles Zeichen von individueller Egozentrik.

Tätowierungen waren für unsere Väter und Mütter der Inbegriff für halbstarke Prolos, harte Jungs, die mittels Motorrad und Gewalt die Freiheit ausleben wollten. Martialische Motive zeichneten die ganz Wilden aus, ein typisches Potenzsymbol der 50er- bis 70erGenerationen. Doch die Zeiten haben sich geändert. Nach der Zeit der sozialen Autoemanzipation begann in den ausgehenden Achtzigerjahren die Aera des Hedonismus, des Extremindividualismus der Generationen X bis Z. Tatsächlich wurden Tätowierungen in den letzten Jahren salonfähig - und eine Kunst. Nicht nur junge Frauen fanden in der Jahrhunderte alten Technik eine neue Art von (Körper)Schmuck, auch die jungen Männer der neuen Yuppie- und Ego-Generation "verschönern" ihren Body nicht mehr nur mittels Kraftmaschine.

Der 28 jährige Tätowierer Heiko stellt fest, dass in den letzten Jahren junge Menschen aus allen Schichten und Traditionen auf den Geschmack von Tatooes gekommen sind. Es sei kein eigentlich Revival, sondern eine soziale Verbreiterung, die Akzeptanz sei grösser geworden. In unseren Worten: es ist ganz normal geworden, dass eine süsse Studentin eine süsse kleine Rose auf dem süssen Oberschenkel trägt. Kein Wunder also, dass sich an der 2. Zürcher Tatoo-Convention im Schützenhaus Albisgüetli Krethi und Plethi zu einem Stell-, resp. Tätowierdichein(en) traf. Zwei Tage lang stellten KünstlerInnen und andere Insider aus der Tatoo- und der mit ihr verwandten Piercingbranche ihre Produkte einem interessierten Publikum aus. Besser gesagt produzierten sie auch. Wer wollte, konnte sich ein Tatoo verpassen lassen. Und die Auswahl war riesig, über 20 "Firmen" aus dem (vor allem westlichen) In- und dem (näheren) Ausland waren dem Ruf des Organisators Hammer Joe gefolgt.

Es war ein sympathisches Chaos vorhanden, Kitsch an der Tagesordnung und das Publikum auf eine amüsante Art gemischt. Auf verschiedenen Ständen wurde Plunder aller Art verkauft, T-Shirts und Töffmode, Schmuck, Pfeifen, Pierces und sonstiger Kitsch aus Easyrider- und Hedonistenkreisen. Das Ich herrschte vor, ein Grossteil des Publikums, ob jung oder alt, kam aus der egozentrischen "Hey, Mann, hey, bin ich cool hey"-Szene. Auffallen heisst ja die Devise der sexualisierten Neunzigerjahre, je mehr das Individuum auffällt, desto grösser ist sein Selbstwertgefühl und seine Chancen auf einem intellektuell geschwächten Markt. Und Tatooes sind auffällig, wie klein sie auch immer sind. Insofern passen sie in diese Zeit des extremen Individualismus. Der künstlerische Wert dieser Tatooes wird immer grösser, nicht mehr grobe Gewaltsujets sind gefragt - obschon gerade in den faschistoiden Rockerkreisen gewalttätige Szenen verbreitet sind. Es hatte viele süsse kleine Sujets, auf den ungewöhnlichsten Körperteilen. Ganz dem Bauchfreitrend entsprechend liessen sich etliche Schönheiten auf dem Bauch tätowieren - obschon es sich fragt, was sie mal machen, wenn sie mal alt und verschrumpfelt sind. Schön wars jedenfalls.

Etwas weniger schön war der Grossteil des Publikums. Ganz auffallend ist, dass gerade in der eigentlich der Aethetik frönenden Tatoo-Szene richtig "attraktive" Männer und Frauen ganz dünn gesät sind. Die meisten sind potthässlich und weisen als einzige "Schönheit" wirklich nur noch ihre Tatooes aus. Wieso das so ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Sicher ein Faktor ist die Tatssache, dass sich zwar Menschen aus vielen Schichten tätowieren lassen, dass aber der harte Kern der Tatoo-Bewegung aus den "klassischen" Tatoo-Kreisen, also zum Teil degoutant abgefuckten Prolos, besteht, junge und alte Möchtegerns, die der perfektionistischen Welt ihre abgrundtiefe Hässlichkeit entgegenstellen, so wie Grufties und Punks. Und sie kamen mit Kind und Kegel, was dem Treffen etwas fast absurdes gab.

Die Frage, warum mensch sich tätowieren lässt, hören Tätowierte oft und sehr ungern. Denn in unseren Augen ist ein Tatoo ein "bleibender Schaden". Heiko, der sich vor zehn Jahren im zarten Alter von 18 Jahren das erste Mal tätowieren liess, erzählte über seine Beweggründe:"Ich weiss es schon gar nicht mehr. Ich wollte vielleicht einfach etwas haben, was nicht jeder hat... und anders sein; wenn man jung ist, dann möchte man anders sein." Mit 22 machte er dann sein erstes Tatoo, eine Blume. Eine Herausforderung seien sicher Portraits, meinte er, das sei technisch ziemlich schwierig. Und teuer. Für ein grosses, kompliziertes Sujet müsste der Interessierte 1000 Franken bezahlen. "Es ist schon wichtig, das man sich Gedanken darüber macht, dass man etwas wirklich zeitloses nehmen sollte und nicht unbedingt den Namen der Geliebten tätowieren lassen, so ein Tatoo hält bestimmt länger als eine Beziehung." Zumindest das mit der Geliebten kann ich leider nur bestätigen.

Die Entscheidung für ein Motiv käme meistens sehr spontan, meinte Heiko. Ein Beleg dafür sind die verschiedenen Ordner mit Vorlagen an jedem Stand. Das ist wohl auch eine Charakterfrage, denn der Autor dieses Berichtes würde das nicht einfach so tun, er würde ein sehr bestimmtes und lange im voraus geplantes Sujet nehmen (z.B. einen Smiley mit Hammer und Sichel in der geballten Faust....). "Es sind dann so Dinge, die einem passiert sind, die einen beeinflusst haben, Geschichten aus dem Leben", umschrieb Heiko diese spontanen Gründe. "Es ist heute nicht mehr anrüchig, tätowiert zu sein, sondern eher chic. Es gibt in allen Gesellschaftsschichten Menschen, die sich tätowieren lassen", wiederholte er schliesslich. "Wir haben in unserer Klientel Doktoren, Angestellte, alles mögliche. Ganz normale Menschen einfach." Das schrägste Tatoo seiner Laufbahn, meinte er, sei ein Hanfsamen gewesen, "aber einen übergrosser, mit einem Gesicht. Man kann auf den ersen Blick gar nicht erkennen, was es darstellen soll. Das ist schon komisch."

Ueberhaupt ist Tätowieren eine sehr persönliche Angelegenheit, in vielen Broschüren wird dem oder der Interessierten nahegelegt, sich seineN oder ihreN TätowiererIn auszusuchen, wie wenn es eine Wohnung sei. Hygieniefragen müssen dabei im Vordergrund stehen, also auch die Vertrauenswürdigkeit des oder der KünstlerIn. Der Vorgang des Tätowierens ist ein langwieriger, ja fast ritueller Vorgang, wobei immer auf die Hygiene und das Wohl des "Opfers" geachtet wird. Zuerst wird das Sujet lang und breit ausgesucht. Dann wird die Körperstelle mit der zukünftigen Verschönerung gereinigt, rasiert und desinfiziert. Vaseline auf der Haut vereinfacht den Tätowiervorgang und lindert auch etwas den Schmerz. Das Sujet wird dann entweder zuerst abgepaust auf die Haut oder "free hand" auftätowiert. Dabei verwendet mensch immer Einwegmaterial, das Zeitalter von Aids ging auch an der Tatooszene nicht folglos "vorbei". Immer wieder wird die Farbe und das Blut abgetupft, bis dann - zum Teil Stunden später - das Kunstwerk auf dem menschlichen Körper fertig ist.

Kunstwerke werden oft prämiert, so auch an dieser Convention. In acht verschiedenen Kategorien wurden Preise vergeben an die besten Sujets und somit auch an die besten KünstlerInnen dieser Convention. Hier wurde es offensichtlich, wie abgeschlossen diese Szene ist. Wer sich nicht auskannte, kam bei diesem Wettbewerb nicht nach. Ein Meisterwerk nach dem anderen wurde einer Jury, dann dem Publikum gezeigt, zum Teil an den unmöglichsten Körperpartien. Je nach "Model" konnte das allerdings sehr anregend sein. Den Newcomerpreis erhielt Harry, tätowiert von Baldwin. Die Jury musste es wissen, der Autor kann sich eh kein Urteil darüber bilden.

Tatooes sind eine uns ziemlich fremde und aber faszinierende Welt, die es zu erforschen gilt. So ein kleines Teil kann wirklich noch ganz amüsant wirken, wenn mensch etwas damit aussagen will. Der Autor sucht also hiermit ein Sujet, das zu ihm passt, zum Beispiel eben einen Smiley mit Hammer und Sichel. Vorschläge sind per Mail erbeten.



Für Biwidus: Wildcat (EMail) aus dem Schützenhaus Albisgüetli Zürich