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Winterthur
25.4.1996

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Gut gebrüllt, Löwe, muss ich dazu sagen. Was in Winterthur an diesem schönen Donnerstag mittag ablief, war eigentlich ein gröberer Witz, den sich die Kulturstadt meines Erachtens fast nicht leisten kann. Und zwar will "man" unserer durch Gesellschafts- und Wirtschaftskrise zerrütteten Nation eine neue Nationalhymne schenken. Falsch. Es ist eigentlich ja die alte Hymne, eben der "Schweizerpsalm" ("Trittst im Waffenrock daher, in der Hand das Sturmgewehr..."), aber das ganze wurde sozusagen kosmetisch aufgepäppelt. Der Hymne von Zwyssig wurde eine Verjüngungskur verpasst. Oder, wie es der an der Vorstellung anwesende Stadtrat Ernst Wohlwend so treffend formuliert hatte, Bestandenes wurde aufpoliert wiedergegeben. However. Es war ein Schuss in den Ofen.

Hierzu muss etwas vorgegriffen werden. Die bestehende "Nationalhymne" wurde erst Anfangs der Achtzigerjahre offiziell zur solchen erklärt. Vorher sang jedeR, was er oder sie wollte. Sei es die deutschsprachige Version des "God save the King", oder sei es auch der 1961 zur provisorischen Hymne ernannte "Schweizerpsalm", einmal mehr konnte sich unsere Nation nicht entscheiden und vollzog einen typisch schweizerischen Kompromiss, eben dieses Nebenher verschiedener Hymnen. Als ob das nicht genug wäre, kam 1965 ein wohl etwas gar visionärer Winterthurer auf die Idee, noch eine Hymne zu verfassen. Anscheinend funktioniert auch bei Nationalhymnen das darwinistische Prinzip, dass der Stärkste überlebt.

Genau dieser bescheidenen Winterthurer Tradition (dem Land eine neue Hymne zu geben) folgte der Musiker Walter Zweifel. Er nahm sich vor, das Ding zu überarbeiten. Und unter dem wohlwollenden Mäzenat der Stadt, des Kunstexperten Andreas Reinhart und der Hilfe der einheimischen Plattenfirma Phonag wurde eine CD herausgegeben, zuerst eine Maxi, die dann Teil eines Albums mit solchen Experimenten sein soll. Die neue Hymne wurde einem breiten Publikum mit grossem Presseaufmarsch vorgespielt.

Mit dabei war auch der Künstler Martin Schwarz mit seinen Bildmontagen namens "Eurokick" zum Thema Fussball-EM in Grossbritannien. Natürlich hat das miteinander nichts zu tun, die Bilder sprechen für sich und bilden überhaupt kein "multimediales Kulturereignis", wie sich Stadtrat Wohlwend auszudrücken geruhte. Das einzig multimediale an dieser Aktion ist wohl die professionell aufgemachte Website auf Winti-Net. Hier können sowohl die Bilder, als auch der Sound runtergeladen werden (vorausgesetzt, dass "man" die nötige Audio-Software und ein entsprechend schnelles Modem hat).

Zur CD kann man nur sagen: ein schlechter Witz. Die Idee einer Verjüngung der tatsächlich nicht mehr zeitgemässen Hymne in Ehren, aber so nicht! Der grosse Unterschied zur alten ist es, dass nicht mehr im 3/4-, sondern im angeblich jugendlicheren 4/4-Takt eingepennt oder vor sich hingelullt werden darf (viel mehr BPM hat auch die neue Hymne nicht). Von jung keine Rede, denn die Jungen stossen sich gerade am lächerlichen Text. Dieser wurde (vorläufig ?) belassen und sogar auf die CD-Cover gedruckt, dass ja jeder und jede die Hymne nachsingen kann. Scheibenkleister. Wir können die Kurzversion der Hymne nicht nur auf Internet, sondern auch auf Telecom (nämlich per Telephon) geniessen. Hierzu wähle mensch die (in manchen Betieben - wie unserem) gesperrte Nummer 156 69 90.

Vier Tracks befinden sich auf der erschienen CD "Hymne Suisse". Neben der "Orginalversion" gibt es auch eine Raveversion davon. Hier zeigt der Komponist sehr deutlich, dass er eine gute Idee hatte, aber von "Rave", "Techno" und "Jugendkultur" etwa soviel versteht wie ich von Frauen: gar nix. Der Track an sich ist nicht schlecht (das gilt auch für das ähnlich aufgebaute "Viva nation" aus dem gleichen Dunstkreis). Aber hier wurde auf eine durchschnittliche Kommerz-Unz-Spur einfach der Melodiegang reingesampelt, von einem homogenen Track also keine Spur. Hier wurde einfach "aus alt mach neu" betrieben. Kein Wunder, waren auch die meisten Jugendlichen, die den Vorplatz vor dem Museum säumten, nicht gerade begeistert von dieser Vorstellung. Ganz im Gegenteil, eher belustigt von soviel Blödsinn. Und die wenigen Alten regten sich selbstredend darüber auf, dass unsere glorreiche Nationalhymne, die wohl schon weiland Tell auf den Lippen gehabt hatte, so verballhornt worden ist.

Ich habe nichts gegen Kunst - und schon gar nicht gegen Verfremdung (mensch hat ja Brecht gelesen). Aber das ist nicht einfach nur eine kritische Verzerrung, es gefällt nicht nur nicht, es ist einfach ein Blödsinn, ein schlechter Witz. Die Jungen können mit diesem nationalen Schrott nichts anfangen, die Alten verstehen die Welt nicht mehr, und Winti verscheissert sich damit selbst. Sicher, die Grundidee einer "neuen Nationalhymne" ist weiss G... nicht übel, ja bitter nötig. Wir Jungen können nichts mit diesem an Armee und Patriotismus erinnernden Theater anfangen. Aber das ist nun wirklich blöd. Dieser Anlass war schlicht nicht nötig. Und das Motto "Wir wollen international zeigen, dass die Schweiz modern, mutig und eigenständig ist..." zeigt nur eine gewisse Tendenz zum Grössenwahnsinn, so leid es mit für Winti auch tut.

Die Macher wünschen sich, dass die neue Hymne an der Eröffnung der Fussball-EM im Wembley-Stadion gespielt werde. Die Welt soll erfahren, mit was wir uns identifizieren. G... verhüte, DAMIT jedenfalls nicht. Und wenn überhaupt Nationalhymne (für Fussballspiele zum Beispiel), dann aber richtig und wirklich "modern", nicht einfach nur auf neu getrimmt. Ich kann dazu nur sagen: Bad form, Winterthur! Ich erwarte voller Spannung das erste Match unserer Nationalelf - welche Hymne dann wohl gespielt wird?



Für Biwidus: Wildcat (EMail) aus dem Oskar Reinhart-Museum in Winterthur