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24.4.1996

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10 Jahre Tschernobyl - Erinnerungen

26. April 1986, 2.00 Uhr Ortszeit im Käffchen Pripjat in der heutigen Ukraine, nur ein paar hundert Kilometer entfernt von Kiew und knapp vor der weissrussischen Grenze. Innerhalb nur weniger Augenblicke geschieht im einen der vier Reaktoren des benachbarten Atomkraftwerkes Tschernobyl der von vielen AtomgegnerInnen schon lange prophezeite Super-GAU (Grösster Anzunehmender Unfall - der verharmlosende Begriff für eine Katastrophe ohnegleichen in der Weltgeschichte). Während eines Tests schmilzt der hochreaktive Kern des Reaktors durch den Mantel. Der überhitzte Reaktor explodiert. Ursache: menschliches Versagen.

Die freigewordene Strahlung kann ungehindert in die Atmosphäre entweichen, die Winde verteilen die radioaktive Luft über ganz Europa. Erst, als schwedische Messzentralen Alarm geben, sickert aus der damaligen Sowjetunion die Nachricht heraus, dass ein Störfall vorliege. Je länger es geht, desto mehr erfährt mensch über den Vorfall. Bald stellt sich heraus, dass der GAU sogar die Katastrophe von Harrisburg Ende der Siebzigerjahre übertrifft. Langsam rollt die Hilfsmaschinerie an, ein paar Tage und unzählige tote und verstrahlte Menschen später wird der Unglücksreaktor mit einem Betonmantel isoliert (dem "Sarkophag"). Die Welt hat ihren Super-GAU.

In Mitteleuropa schellen die Alarmglocken. Milch darf nicht mehr getrunken werden, Salat nicht mehr gegessen, und Kleinkinder sollten nach Möglichkeit nicht mehr im Sandkasten spielen. Junge Mütter werden beruhigt, während gleichzeitig Jodtabletten gegen die Strahlenkrankheit vorbereitet werden. Das Radio und das Fernsehen bringen regelmässig Berichte über die Situation, zehntausende von Menschen sind im Westen der Sowjetunion betroffen durch den Unfall. Es ist zweifellos, dass dieser "Unfall" einer der vielen Faktoren gewesen ist, die zum Zusammenbruch der UdSSR geführt haben. Und somit zum Ende der "Geschichte".

Als junger Mittelschüler von 14 Jahren habe ich diesen Unfall erlebt, der sich nun zum zehnten Male jährt. Andere von uns waren noch jünger. Aber erinnern kann ich mich noch ziemlich gut daran. Zum Beispiel daran, dass durch diese Katastrophe hunderte und tausende von Jugendlichen direkt oder indirekt politisiert worden und in Scharen Umweltorganisationen oder Oeko-Gruppierungen beigetreten sind. So auch ich. Demos wurden durchgeführt, die zum Teil mit brutalster Gewalt vom atomfreundlichen Staat aufgelöst worden waren (Ja, Herr Albisetti, wir erinnern uns noch an sie!!!). Und der Super-GAU von Tschernobyl war wahrscheinlich der entscheidende Schritt zu einer eher fortschritts- oder zumindest atomtechnologiekritischen Haltung vieler Menschen. Diese Haltung ist sicher verantwortlich für das noch bis ins Jahr 2000 dauernde Moratorium und die fast angenommene Ausstiegsinitiative.

Doch wie sieht es heute aus? Der Blätterwald rauscht, jedes Medium, das etwas von sich hält, behandelt das Thema. So tun es die PolitikerInnen, die eine Gedenkveranstaltung und Konferenz nach der anderen absitzen. Und wie sieht es die Basis, die Betroffenen? Diejenigen zum Beispiel, die damals noch jung, fast zu jung gewesen sind. Also die, die heute in jenes Alter kommen, wo sie von Gesetzes wegen "erwachsen" würden. Die Generation also um 20 herum. Wir patroullierten an einem schönen Samstagnachmittag, wenn tausende von Jugendlichen das Ufer des Sees säumen, über die Promenade und fragten sie, an was sie sich noch erinnern können, oder wie sie es damals empfunden haben, wenn sie sich überhaupt noch daran erinnern können. Eine Biwidus-Umfrage, mal ein bisschen kritischer.

"Ich habe gerade ein Buch darüber gelesen. Man musste immer so duschen, durfte keine Milch mehr trinken und keinen Salat essen." (Marco, 19)

"Die ersten kleinen Meldungen in der Zeitung haben mich darauf aufmerksam gemacht. Dann habe ich gefunden, es sei ein bisschen aufgebauscht gewesen. Und die letzte Phase war, dass ich gemerkt habe, dass wirklich eine Katastrophe eingetreten ist." (Gäldi, 43)

"Ich kann mich schon noch erinnern. Die ganze Aufruhr damals, und was passiert ist, mit dem Reaktor, und was sie dagegen unternommen haben und was eben nicht. Und wie lange es gegangen ist, bis sie etwas unternommen haben." (Roger, 28)

"Auf mich hatte es keinen Einfluss. Es war halt wie heute beim Rinderwahnsinn. Ich esse noch immer Rindsfleisch. Aber man wird schon etwas bewusster. Was willst du dagegen schon unternehmen?" (Thomas, 21)

"Ich erinnere mich an die toten Fische, aber sonst hatte es keine Konsequenzen auf mein Leben. Es ist passiert, man kann es nicht mehr ändern. Sie behaupten ja, dass das in der Schweiz nicht passieren könne." (Sylvia, 20)

"Ich weiss noch, was in den Nachrichten durchgegangen ist. Die Arbeiter, die hinein mussten, um das Zeug zu säubern, die dann verseucht waren. Die Babies, die entstellt auf die Welt kamen, ja, das weiss ich schon noch. Ich wurde dadurch zum Kernkraftgegner." (Paddy, 21)

Diese Stimmen sagen einiges aus. Aber sie können nicht alles sagen. Fakt ist zum Beispiel, dass die Explosion des Reaktorkerns 200mal soviel Strahlung freigesetzt habe, als die zwei A-Bomben über Hiroshima und Nagasaki. Fakt ist auch, dass die Regierung des benachbarten und hauptbetroffenen Weissrusslands in den vergangenen zehn Jahren 280 Millionen Dollar für die Bekämpfung der Schäden des Reaktorunglücks aufbringen musste, mehr als 15% des staatlichen Bruttosozialprodukts. Fakt ist ferner, dass in der unmittelbaren Nähe des Reaktors heute noch auf drei Geburten eine Miss- oder Fehlgeburt kommt (Angaben aus dem letzten "Facts"). Die Gegend um die Totenstädte Tschernobyl, Pripjat und Gomel ist tot, toter als tot. Und trotzdem leben noch Menschen dort.

Michael Müller, Umweltexperte der SPD, schreibt in einem Aufsatz über den Jahrestag:"Die zivile Nutzung der Atomkraft ist nicht zu verantworten. (...) Es ist ein Skandal, dass auch 10 Jahre nach Tschernobyl die entscheidenden Konsequenzen nicht gezogen sind: rationelle Energieverwendung, Energieeinsparung und die Brücke ins Solarzeitalter." Utopie in Reinkultur? Es hat sich ja auch als Utopie erwiesen, dass Kernkraftwerke a priori sicher seien. Zu diesem Thema gibt es noch viel zu sagen. Aber auf einen Punkt möchte der Autor noch hinweisen. Heute, 10 Jahre nach der Katastrophe, laufen die verbliebenen Reaktoren des AKWs Tschernobyl noch immer. Die Ukraine hat die Entrichtung immenser Ausgleichszahlungen als Bedingung dafür gemacht, das AKW abzuschalten. Das hiesse für uns Wessies, dass wir "Sicherheit" für "Bares" kriegen sollen. Sicher, ich möchte die Notlage der wirtschaftlich ziemlich darniederliegenden Ukraine nicht unterbewerten, aber wieso spielt mensch dort mit einem zweiten Unfall? Weil die Gegend ja eh verlassen ist? Das wäre schon ein Fall von Zynismus, oder?



Für Biwidus: Wildcat (EMail) von der Uferpromenade am Zürisee.